Sonntag, 8. August 2021
Feuerprobe
Es steht eine Fernwanderung an, zwei Tagesmärsche wird sie benötigen. Die Arbeit im Wald hat sie beendet, und ihr neues Werk in einer fremden Bauernschaft beginnt erst in einigen Tagen. Vor ihr liegen Freiheit und Zeit.

Sie schnürt ihr Bündel sorgfältig, diesmal gehören auch Felle und Gurte zum Gepäck, für die Übernachtung; außerdem mehr Proviant. Getrocknetes Fleisch, und für den ersten Tag kalte Reste ihres Mittagsmahls legt sie dazu. Sie weiß nicht, ob sie Schenken oder Siedlungen kreuzen wird, kennt nur die Richtung und den Wasserlauf, der sie begleiten wird. Erst am Vormittag bricht sie auf.

Die ersten bekannten Wege läuft sie leichtfüßig und froh. Ihre Gedanken schweifen ab, und sie freut sich auf die Reise. In späteren Stunden orientiert sich sich am Sonnenstand und an dem blassen Mond und findet ihren Weg fehlerfrei. Ihr erstes Ziel ist ein Bachdelta, wo sich ein Rinnsal aus Salzwiesen mit einem kleinen Dorfbach zu dem Flüsschen vereinigt, das ihr die Richtung weisen soll. Einen Zulauf findet sie fast durch Zufall, und ihre Berechnungen erfüllen sich exakt. Sie folgt dem Wasser, zu einem Teil durch dichtes Gebüsch, dass sie langsam und geduldig durchquert, und erreicht die Zusammenkunft der Gewässer und den Ursprung der neuen Wasserader am frühen Nachmittag.
Sie folgt dem Verlauf eine kurze Zeit, bis sie ein schönes Plätzchen für eine erste große Rast findet, entledigt sich der Schuhe und labt sich ausgiebig an Essen und Trinken. Dann prüft sie den Himmel und die angezeigte Richtung, vermutet den Bachlauf zu linker Hand und findet ihn gleich nach ihrem Aufbruch wieder. Erholt setzt sie ihren Weg fort.
In der Ferne sieht sie ein riesiges Herrenhaus. Sie wandert an abgeernteten Feldern vorbei, durch kühle Wälder, und genießt die unbekannten Ländereien. Viele wilde Tiere begegnen ihr, ein Fuchs auf der Jagd lässt sich nicht beirren, Reiher, Kitze kreuzen ihren Weg, und mache Tiere hört sie lediglich, wie Kibitze und Spechte und tausend andere Vögel.

Sie läuft weiter bis zur Erschöpfung und in die Dämmerung hinein. Nun hält sie die Augen offen und findet ein für die Nacht geeignetes Plätzchen; zu drei Seiten umschlossen von hohen Feldfrüchten, die noch nicht erntebereit sind, ein kleiner Waldflecken. Dort wählt sie eine ebene Stelle mit weichem Boden mit Waldnadeln und Moosen, zieht sich verborgen zurück und schlägt ein Nachtlager auf. Felle geben Schutz vor Kälte vom Boden her, und sie spannt sich ein Dach ab, falls Regen fallen sollte. Bislang sind nur vereinzelt ein paar Tropfen gefallen, wegen denen sich noch nicht einmal einen Umhang umgelegt hatte. Sie bettet sich und ist erschöpft, und lauscht den ungewohnten Geräuschen der Natur. Dreimal hört sie Jäger, sie ängstigt sich etwas, schläft dann fest ein.
In der Nacht erwacht sie oft, einmal liegt sie mehr als eine Stunde wach und ersehnt den Morgen und den Aufbruch. Wandern, weiterziehen, den Ort verlassen, wo sie gefunden werden kann. Schließlich schläft sie erneut ein und ist erholt noch vor dem Sonnenaufgang und dem Schrei des Hahns des nächsten Hofes.
Sorgfältig faltet sie ihr Nachtlager zusammen, schnürt ihr Bündel, prüft sorgfältig den Ort auf Zurückgebliebenes und verlässt ihn erleichtert, startet in den frühesten Morgen. Nur am Horizont steht ein schmaler Feuerstreif, die Welt liegt im Dunkeln. Der Bauer des nächsten Hofes sieht sie erstaunt vorbeiwandern, und gibt ihren fröhlichen Gruß freundlich zurück. Langsam stottert sich der Tag heran, herrlicher Frieden und Stille erfüllen sie mit Glück und weitem Herzen. Auf freier Ebene entzündet sich ein kleines Feuer, kocht sich etwas Wasser und bereitet sich einen Kaffee zu. Sie wäscht und kämmt sich, fühlt sich so etwas wohler, genießt den Morgen, die Natur und die Freiheit, und denkt gleichzeitig an die Hütte, die Hütte, mit ein bisschen Sehnsucht denkt sie daran.
Der Wasserlauf, der kleine, hat sich zu einem beachtlichen Flüsschen gemausert. Sie kommt gut voran und hat am frühen Vormittag - Händler und Handwerker beginnen ihr Tagewerk - den Haupteil der Strecke bewältigt. Sie kehrt ein in eine Schankstube, die zu dieser Tageszeit noch vollkommen leer ist. Die Wirtsfrau bringt ihr einen großen Humpen dampfenden Kaffee, und gleich danach noch ein heißes Gebräu. Nach einer kleinen Vesper flaniert sie neugierig entlang der Stände der Krämer und Töpfer, erwirbt aber nichts und bricht auf zur letzten Etappe.

Bald sieht sie die Spitze des Kirchturms; schon mittags erreicht sie ihr Ziel. Sie ist froh, erledigt ihre Pflicht, und lässt sich erschöpft nieder und streckt die fleißigen, nun doch müden Glieder von sich.

Lange muss sie nicht warten; ein Fuhrwerk hält an und nimmt sie zurück in die Heimat. Heim. Herrlich!

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